12.09.2009

Kaufkraft

Wirtschaft verstehen bedeutet Statistik verstehen. Statistik verstehen bedeutet Tabellen verstehen. Tabellen verstehen bedeutet Zahlen verstehen. Zahlen verstehen bedeutet...Mischbrot, viel Mischbrot.

Doch wie kam es zu all diesem Mischbrot?

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Lasst mich anders beginnen: Auf dem Papier studiere ich Sozialwissenschaften. Würde ich nun eine Vorlesung der Bochumer Sozialwissenschaften besuchen, müsste ich in die entlegenste Ecke der gesamten Ruhr-Universität laufen, zum Gebäude GC, von dessen Südseite man mit einem kräftigen Satz schon direkt in den Kemnader See springen kann.

Diese Fakultät hat eine Bibliothek.

In dieser Bibliothek nun gibt es allerhand Bücher zu lesen, was keiner tut. Vielmehr dient die Bibliothek für 24/7-Notebooknutzer, die sich den Strom und die Internetkosten zu Hause sparen möchten. Ich habe das mal beobachtet: Da arbeitet keiner. Die meistbesuchten Seiten von Sowistudenten in der Bibliothek sind:

- sport1.de
- *ornhub.com
- crapstats.blogspot.com (jetzt NEU mit Besucherzähler!)
- dortmunder-citylauf.de
- rub.de/stellenboerse

Außerdem haben einige Angestellte der Fakultät noch mitten in der Bibliothek ihr Büro.

Doch zur Sache: Pro Tag gehen immer mehr aus der Sowi-Bibliothek raus als reingehen. Wie das geht? Keine Ahnung. Ist so. Doch wenn man herausgeht, was man bei jedem Besuch mindestens zweimal macht, sieht man auf dem Tische links neben dem Ausgang häufig kostenloses Material. Und einmal im Jahr, ja, einmal, gibt es dort das kleine schlaue rote Büchlein vom Institut der deutschen Wirtschaft Köln: Deutschland in Zahlen 2009 (vor einem Jahr hieß das noch Deutschland in Zahlen 2008, vor fünf Jahren 2004 usw.).

Was steht da so drin? Außer dass wir alle älter werden (2030 bin ich schon 46), außer dass die Reallöhne sinken bei gleichzeitiger Zunahme der Vermögenseinkommen und außer dass in Deutschland nur noch Personen mit Migrantionshintergrund* leben?

Diesen Buch sagt uns, was wir uns kaufen konnten, was wir uns kaufen können und wie lange wir dafür arbeiten müssen. Da man zu dieser Berechnung eine feste Berechnungsgrundlage braucht, wurde als Basis die Nettolohn- und Gehaltssumme je geleistete Arbeitsstunde in den alten Bundesländern genommen (weil man im Osten teilweise noch immer in Zigaretten bezahlt wird). Diese Nettolohnsumme je Stunde habe sich, laut "Deutschland in Zahlen 2009", wie folgt entwickelt:

1960 = 1,27EUR.
1991 = 10,16EUR.
2008 = 13,79EUR.

Es handelt sich dabei um Schätzungen aber ich als bibeltreuer Statistiker glaube dem Institut für deutsche Wirtschaft in Köln.

Auf Grundlage dieser Stundenlöhne sieht das weitere Vorgehen nun wie folgt aus: Man verfolgt, wieviel ein Konsumgut zu den unterschiedlichen Zeiten (eben 1960, 1991 und 2008) gekostet hat und wielange man mit eben berechnetem durchschnittlichen Stundenlohn für diese erstrebenswerten Güter arbeiten musste.

Es reichen Platz und Zeit nicht aus, um jedes dieser Güter einzeln unter die Lupe zu nehmen. Deshalb hier meine Favoriten:

- 1kg Mischbrot kostete 1960 genau 41 Cent. Dafür musste man damals 20 Minuten arbeiten. Heute kostet dieses Brot astronomische 2,51 - dafür müssen wir uns aber nur noch 11 Minuten lang den Rücken verbiegen. Fazit: Fortschritt.
- 10 Eier kosteten bereits 1960 über einen Euro. Und, man glaube es oder nicht, sie zu bezahlen erforderte fast eine Stunde Arbeitszeit. Heute nur noch 8 Minuten. Fortschritt.
- Wer mag sich schon ein Leben ohne Brathähnchen vorstellen? So ein saftiges, schnuckeliges Hühnchen am Spieß? Ohne Brathähnchen wäre das für mich kein Leben nicht. Und doch: 1960 musste man 13 Minuten dafür knüppeln, heute auch. Und selbst wenn die Arbeitszeit/Brathähnchen 1991 auf 15 Minuten gestiegen waren: Kein Fortschritt.
- Was das Saufen angeht, haben wir Deutschen uns ganz schön gemausert: 'ne Viertelstunde für einen halben Liter Bier 1960, nur noch drei Minuten heute. Und, höret und staunet, der durchschnittliche Arbeiter musste 1960 über (!) 5 (!) Stunden (!!) für eine Flasche Weinbrand ackern! - Heute noch 35 Minuten. Fortschritt.
- kommen wir zur Kleidung. Was brauchen wir? Herren brauchen Slipper, Damen brauchen Pumps. Für ein Paar musste man anno 1960 noch mehr als 10 Stunden arbeiten, heute nur noch fünf. Fortschritt.
- Haushaltsstrom, 200KWh: 10 Stunden früher, dreieinhalb heute. Und weil billiger Strom uns vor dem PC sitzen und dämliche Sachen verzapfen lässt: Kein Fortschritt.
- Kaum zu fassen: Für 500g Kaffee musste man im Krieg, also 1960, noch richtig lange arbeiten! Über drei Stunden. Heute kriegt man den Kaffee für 2,26EUR (angeblich) und muss nur noch 10 Minuten dafür zur Arbeit. Fortschritt.
- Benzin war schon immer teuer. Aber 1990 musste man nur vier Minuten dafür arbeiten. Heute sechs. Kein Fortschritt.
- Der größte Traum im Leben eines Menschen ist ein eigener Fernseher. Das war vor 100 Jahren so, das ist heute so. Nur: Heute ist dieser Traum leichter zu erfüllen. Denn ein schwarz-weiß-Fernseher kostete 1960 446,87EUR und musste mit 351 Arbeitsstunden und 38 Arbeitsminuten finanziert werden. Heutet kostet eine Kinoleinwand für zuhause nur noch 250 Euro und kann mit 18 Stunden Arbeit abgesessen werden. Fortschritt.
- ein Monat lang die Tageszeitung lesen, das macht nun wirklich keiner. Und doch hat das Institut für deutsche Wirtschaft die Kosten für ein Monatsabo der Lokalzeitungen unter die erstrebenswertesten Güter mit aufgenommen. Und siehe da: Tageszeitungen waren schon immer teuer. Nur 1990 konnte man sie mal für weniger Arbeit haben: eine Stunde und 12 Minuten Arbeit für ein Monatsabo, das war der Tiefswert. Aber weil es für diesen Unsinn keinen Markt gibt, wurden die Dinger wieder teurer und erfordern nun eine Stunde und 40 Minuten treuen Dienst: Kein Fortschritt.
- Und zu guter Letzt mein Favorit: "Herrenschuhe besohlen". Wie oft steht man Freitags abends bei Vollmond an einer Straßenlaterne und heult den Mond voll: "Warum nur, warum muss ich eine Stunde und 36 Minuten meines Lebens verschwenden, nur um mir meine kostbaren Herrenschuhe besohlen zu lassen? Es ist nicht fair!" - Doch, es ist fair. Denn 1960 noch musste ein Jedermann mehr als vier Stunden für eine solche - zweifelsohne notwendige - Investition arbeiten. Fortschritt.

Ich hoffe, ich habe Euch mit diesem kleinen Beitrag auf den Geschmack gebracht und ihr folget nun auch bald dem tugendhaften Pfade der Wirtschafts- und Sozialstatistik? Dann hinterlasset mir eine kurze Nachricht und ich besorge Euch ein kostenloses Exemplar von:

Deutschland in Zahlen - 2009. Der Klassiker!

Und habt bloß kein schlechtes Gewissen: Von den 500 Freiexemplaren, die da rumliegen, wandern 400 in den Müll, weil Sozialwissenschaftler mit Zahlen nichts anfangen können.

Liebe Grüße,
Euer Mischbrot

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*Vorausgesetzt, wir definieren Person mit Migrationshintergrund folgendermaßen:

"Dauerhaft in Deutschland lebende Person mit ausländischer Staatsangehörigkeit, die im Ausland oder in Deutschland geboren wurde oder Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, die im Ausland geboren wurde oder Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern bzw. mind. ein Elternteil im Ausland geboren wurde und/oder ausländischer Staatsangehöriger ist oder Person mit deutscher Staatsangehörigkeit, deren Eltern deutsche Staatsangehörige sind und in Deutschland geboren wurden und deren Eltern bzw. ein Elternteil (d.h. die Großeltern der betreffenden Person) im Ausland geboren wurde und/oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt oder eine Person, die in Deutschland geboren wurde, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und deren Eltern und Großeltern die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und in Deutschland geboren wurden, deren Urgroßeltern (d.h. die Urgroßeltern der diesen Passus betreffende Person) oder ein Urgroßelternteil im Ausland geboren wurde und/oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und/oder eine Fremdsprache spricht oder eine Person, die in Deutschland geboren wurde, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und deren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in Deutschland geboren wurden, die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und keine Fremdsprache inkl. Englisch sprechen, deren Ururgroßeltern (d.h. die Ururgroßeltern der diesen Passus betreffende Person) oder ein Ururgroßelternteil im Ausland geboren wurde und/oder eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzt und/oder eine Fremdsprache inkl. Englisch spricht."

(Quelle: Bowmans Dictionary of troublesome words, vol. II: h to m; crapstats publishers, Perth 2008. Aus dem Englischen übersetzt von H(M)B)

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